Das neue Buch von Karl Heinz Roth zur Coronakrise und ihren Folgen – ein Buchtipp für weckerswelt von Michael Backmund
Blinde Passagiere - das Cover zum Buch von Karl Heinz Roth
Normalerweise schreiben Historiker*innen über vergangene, häufig sehr lange zurückliegende Ereignisse, die weder sie noch ihre Leser*innen selbst erlebt haben. Oft haben sie es dabei schwer, die Relevanz ihres Forschungsgegenstandes für die Gegenwart unter Beweis zu stellen. Das ist bei diesem Buch ganz anders. Seine aktuelle Relevanz ist extrem hoch und es betrifft uns alle. Das macht es zugleich einzigartig und seine Geschichte so innovativ: „Blinde Passagiere“ ist eine akribisch recherchierte und brillant geschriebene globale Chronik und Analyse der Covid-19-Pandemie und ihrer bisherigen Folgen. Es zeigt die Ursachen, die Entstehungsgeschichte, die Ausbreitung, aber vor allem auch das globale Versagen von Regierungen und Krisenstäben im Umgang mit der aktuellen Pandemie, die seit über zwei Jahren andauert. Das Ergebnis ist lebendige Zeitgeschichte im Prozess auf höchstem Niveau, in Echtzeit verfasst von Karl Heinz Roth.
Der Autor ist Arzt, Sozialforscher und Historiker und hat die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts mitgegründet. Seit den frühen 1980er Jahren forscht Roth u.a. zur Rolle der Deutschen Wirtschaft in der NS-Zeit, zum System der Zwangsarbeit, zur Vernichtungspolitik und zu den Psychiatrie-Morden. Seine zahlreichen Schriften zur Sozial-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte sind mittlerweile für mehrere Generationen von Historiker*innen Grundlagen wichtiger Auseinandersetzungen über die Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus, aber auch über den „Zustand der Welt“ und die sozialen und ökologischen Krisen, die der globalisierte Kapitalismus seit Jahrzehnten produziert (siehe Infokasten).
Das politisch-emanzipatorische Denken von Karl Heinz Roth ist Widerspruch und Pionierarbeit zugleich, weil es im Gegensatz zum herrschenden Zeitgeist unbequeme Fragen stellt und auf der Basis einer präzisen Quellen- und Faktenrecherche sowie einer fundierten wissenschaftlichen Forschungstätigkeit seine schonungslos kritischen Analysen und Antworten nachvollziehbar belegt und prozesshaft diskutiert. Und genau darin liegt die herausragende Bedeutung des neuen Buches von Karl Heinz Roth: „Blinde Passagiere – die Coronakrise und die Folgen“ (Verlag Antje Kunstmann, 503 Seiten, 2022). Mit seinem Werk stellt der Autor darüber hinaus einen wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Werkzeugkasten zur Verfügung, der zu einer effektiveren und sozial gerechteren globalen Bekämpfung dieser und zukünftiger Pandemien beitragen könnte. Darin liegt die Hoffnung, die aus der Kritik erwächst.
Dieses Buch ist somit ein echter Glücksfall für uns alle. Denn wir alle sind Betroffene und Akteure seines aktuellen und hoch brisanten Themas. Damit eröffnet diese interdisziplinäre Enzyklopädie der Covid-19-Pandemie die Chance, den bisherigen Verlauf neu zu betrachten und zu reflektieren, die größten Fehler zukünftig zu vermeiden und endlich Konsequenzen zu ziehen. Es ist ein Angebot für eine dringend notwendige gesellschaftliche Diskussion: Über Leid und Tod, über das Versagen der Verantwortlichen und die Verwirrungen und Irrwege, die es ausgelöst hat. Aber vor allem auch über die Frage, in welchen Gesellschaften wir global in Zukunft leben wollen. Und welche Gesundheitssysteme wir dafür brauchen.
Akribisch zeichnet Roth zunächst die rasante Reise des neuen Virus über den Globus nach und analysiert die Dynamik und Ausbreitung von Covid-19 als ein „vorausgesagtes Ereignis“ für das es zahlreiche Anzeichen und vor allem menschengemachte Ursachen gibt. Die Coronakrise ist eine Katastrophe mit Ansage. Dabei seziert Roth mit klarem Blick die Versäumnisse im Vorfeld der Pandemie: Wie zum Beispiel den fahrlässigen Abbau der Vorratshaltung von ausreichend Material für die Infektionshygiene im Ernstfall, das Fehlen von effektiven Frühwarnsystemen (bis auf wenige Ausnahmen) oder den globalen Zustand eines seit Jahrzehnten deregulierten und zerstörten öffentlichen Gesundheitswesens. Er zeigt überzeugend, warum aufgrund massiver Fehleinschätzungen und -entscheidungen in den ersten Wochen die globale Ausbreitung der Pandemie nicht mehr gestoppt werden konnte und warum die besonders gefährdeten Personengruppen dem Virus schutzlos ausgeliefert wurden.
Diese Entwicklungen analysiert Roth nüchtern und facettenreich. Das reicht vom verheerenden Kahlschlag des öffentlichen Gesundheitswesens als Folge der Schuldenkrise in den 1980er Jahren im globalen Süden bis zum Umbau des Krankenhauswesens im Sinne aktiennotierter Gesundheitskonzerne und Investmentfonds. Er schreibt zudem packend, nachvollziehbar und verständlich, wobei das absurde Versagen der verantwortlichen Institutionen und Regierungen Seite für Seite immer deutlicher zum Vorschein kommt. Roth stellt klar: Das Massensterben in den Senioren- und Pflegeheimen wäre vermeidbar gewesen. Statt Angstmacherei und pauschale Lockdowns hätte es effektivere und vor allem solidarischere Alternativen im Kampf gegen diese Pandemie gegeben. Zumal es schon in den ersten Tagen wesentliche und sehr spezifische Erkenntnisse über die Eigenschaften des neuen Virus gegeben hat.
Bereits im Januar bzw. Februar 2020, so Roth, haben Wissenschaftler*innen in Wuhan, aber auch in München nachweisen können, dass infizierte Menschen in erheblicher Anzahl nicht erkranken oder nur so milde Symptome entwickeln, dass sie keinen Arzt aufsuchen und somit nicht erfasst werden. Eine entscheidende Erkenntnis, die weitreichende Auswirkungen auf die Bewertung und Bekämpfung der Pandemie hätte haben müssen, wenn ein Großteil der Infektionen symptomlos und unerkannt verläuft, und daher die Dunkelziffer der Infizierten, die das Virus trotzdem ständig weitergeben und andere anstecken, sehr hoch ist. Die nötigen epidemiologischen und infektionshygienischen Konsequenzen wurden daraus jedoch nicht gezogen, aber wertvolle Wochen verloren, in denen sich das Virus in rasanter Geschwindigkeit in der Bevölkerung diffus ausbreiten konnte und zugleich immer mehr Menschen aus den besonders gefährdeten Gruppen der Bevölkerung schwer erkrankten und in hoher Zahl starben.
Die Bilanz ist ernüchternd: Der Krisenstab traf in Deutschland „seine Entscheidungen im Blindflug“, zudem viel zu spät und betrieb über viele Monate einen „Inzidenzzahlen-Fetischismus“ ohne reale Aussagekraft. Anstatt beispielsweise sofort langfristig angelegte Kohortenstudien zu starten, auf gezielte Test-Strategien und Infektionsschutzmaßnahmen zu setzen und damit vor allem die besonders gefährdeten Gruppen effektiv zu schützen, also Menschen ab 70 Jahre, chronisch Kranke und insbesondere solche, die in Alten- und Pflegeheimen leben, baute sich eine Drohkulisse auf, in der alle irgendwie gleich und diffus gefährdet erschienen. Warnungen erfahrener Expert*innen der Gesundheitswissenschaften und Betroffener wurden schlicht ignoriert sowie die Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung nicht unterstützt. Wochenlang bestritten führende deutsche Krisenmanager und ihre Berater bis weit in den März 2020 hinein sogar die Wirksamkeit entscheidender Schutzmaßnahmen, anstatt die Verwendung von Masken von Anfang an zu propagieren.
„Das Leben im Ausnahmezustand weckte Erinnerungen an frühere epidemische Notlagen“, schreibt Roth in seinem Vorwort. Seit Beginn der 1980er Jahre arbeitete er neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Historiker auch als Hausarzt in einer Gemeinschaftspraxis im Hamburger Stadtteil St. Pauli. An diesem „sozialen Brennpunkt“ war er unverhofft zu einem „Frontmann“ der AIDS-Pandemie geworden. Auch im Kampf gegen die Propaganda konservativer Politiker, die damals Infizierte und Kranke in „speziellen Heimen“ wahlweise „konzentrieren“ und „absondern“ wollten und offen zur Hatz auf Schwule, Migranten, Drogenabhängige und Prostituierte aufriefen „Zum Glück konnten sich im Dialog mit den Betroffenen unsere Alternativvorstellungen schließlich durchsetzen: detaillierte Aufklärung über die Übertragungswege und Eigenschaften des Erregers, kostenlose Verteilung von Kondomen und Ausbau der Drogenberatung.“
So ist Roth als früherer Aktivist der 1968er Revolte seit Beginn der AIDS-Pandemie in den letzten Jahrzehnten auch zu einem kritischen Ideen- und Ratgeber für die sozialen Bewegungen geworden. Vor allem für eine basisdemokratische Gesundheitsbewegung, für die eine öffentliche Gesundheitsversorgung ein egalitäres, globales Menschenrecht für alle darstellt. „Der kritische Blick, der globale, internationale Aspekt von kritisch medizinischem Handeln ist ganz entscheidend“, sagt Roth, „gerade bei der richtigen Einschätzung und Bekämpfung von Pandemien“.
Der Historiker und Arzt Karl Heinz Roth Foto: Malte Heuer
In der Einleitung erinnert Roth an „Krankheitserreger als blinde Passagiere“ anhand vorausgegangener Ereignisse wie der Pest und der extrem tödlich verlaufenen Influenza-Pandemie von 1918 bis 1920, deren Tragweite die medizinhistorische Forschung erst in den 1990er Jahren rekonstruieren konnte. Diese verlief in mehreren Wellen mit unterschiedlich aggressiven Erreger-Varianten. Ihren Ursprung hatte sie im US-Bundesstaat Kansas, in dem sich viele Schweinezuchtfarmen befanden. Ihre unfreiwilligen „superspreader“ waren von Anfang an die infizierten Besatzungen der US-amerikanischen und britischen Kriegsschiffe, die das Virus weltweit verbreiteten. Damals missachteten die Militärführungen trotz eindringlicher Warnungen einiger Mediziner das Risiko der uneingeschränkten Mobilität ihrer Kriegsflotten. Die Gesamtzahl der damaligen Pandemie-Opfer wird heute auf weltweit 40 bis 50 Millionen geschätzt, ein Vielfaches der im 1. Weltkrieg getöteten Menschen.
Die große Stärke der sich daran anschließenden Untersuchung über die Covid-19-Krise ist der globale Blick von Roth auf die Coronakrise und sein multiperspektivischer Ansatz, der die sozialpolitischen, ökonomischen, sozialpsychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie genauso unter die Lupe nimmt wie die getroffenen Gegenmaßnahmen und ihre jeweiligen Folgen weltweit. So wird schnell deutlich: Dieser Virus betrifft bzw. bedroht Menschen sehr unterschiedlich. So ist das Risiko für eine schwere Erkrankung zum Beispiel neben Alter und chronischen Vorerkrankungen stark abhängig von den Wohn- und Arbeitsverhältnissen. Mit dem Wissen um diese Differenzen hätten auch die Gegenmaßnahmen und vor allem ihre jeweiligen Auswirkungen und Interdependenzen auf die Dynamik der Pandemie betrachtet werden müssen.
Intensiv setzt sich Roth zum Beispiel mit der Instrumentalisierung der elementaren individuellen und kollektiven Ängste auseinander. Anstatt mit Aufklärung, Anteilnahme und Angeboten zu einer ernsthaften Auseinandersetzung beizutragen und die Fähigkeit zur kritischen Diskussion über die Situation zu fördern, wurden jedoch seit Beginn der Pandemie Ängste und Verunsicherungen massiv verstärkt. Die Mittel dazu waren Gerüchte, Falschmeldungen und angstverstärkende Mechanismen. Das reichte von den lebensgefährlichen Heilsversprechen bzw. Verharmlosungen populistischer Politiker*innen, die zu zehntausenden „Kollateralopfern“ der Pandemie geführt haben, weil sie zur empfohlenen Vorbeugung giftige Bleich- und Desinfektionsmittel tranken; bis hin zu reaktionären Gruppen, die mit antisemitischen, rassistischen und verschwörungstheoretischen Erzählungen die Verängstigungs- und Verdrängungsprozesse in der Pandemie gezielt für ihren Endzeit- und Endkampfmobilisierungen instrumentalisieren.
Kritisch setzt sich Roth aber auch mit diversen Irrwegen der Linken auseinander, ob sie nun dem Ausnahmezustand der Politik sowie den damit verbundenen massiven Abbau demokratischer Grundrechte widerspruchslos hinnahmen bzw. sogar das Wort redeten oder wie Giorgio Agamben die Gefährlichkeit der Pandemie leugneten, sich in Endzeitvisionen verirrten und so zum Kronzeugen der Querfrontstrategen der Coronaleugner und -relativierer wurde. So wird deutlich, dass in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern gerade das Fehlen einer emanzipativen Kritik und relevanten Praxis der Linken das Versagen der offiziellen Politik samt ihrer eigenen Panik-, Verdrängungs- und Vermeidungsprozesse, aber auch das Erstarken von im Kern ebenfalls neoliberalen Coronaleugnern und rechten Mobilisierungen in dieser Form erst möglich gemacht hat. Darin liegt das historische Versagen der Linken in der Pandemie. Mit Ausnahmen wie etwa in Chile oder auch in Brasilien, wo erst eine gesellschaftliche Massenmobilisierung gegen die Regierung Bolsonaro eine hohe Impfquote und effektive Schutzmaßnahmen durchsetzen und so die Fortsetzung des Massensterbens stoppen konnte, dem insbesondere die indigene Bevölkerung im Amazonas zum Opfer fiel.
Roth begreift die Pandemie bzw. das Virus nicht als lineares Geschehen, sondern in ihrem prozesshaften, dynamischen Verlauf. Er verfolgt dabei die jeweiligen (Aus-)Wirkungen der getroffenen Gegenmaßnahmen genauso wie er den Einfluss der (gesundheits-)politischen Strukturen untersucht. So lassen sich die jeweiligen Folgen von Entscheidungen und ihre Wechselwirkungen mit den (meist nicht hinterfragten) strukturellen Voraussetzungen in ihrer Komplexität und Globalität erkennen. Roth zeigt zum Beispiel minutiös die verheerende Wirkung von Lockdowns besonders im globalen Süden, aber auch in den beengten Hochhaussiedlungen der Armutsbevölkerung in den Metropolen. In beiden Fällen trug das „Einsperren“ der Menschen in geschlossene, schlecht belüftete Innenräume zu einer weiteren Verbreitung des Virus massiv bei. Und während viele Reiche vor dem Virus auf ihre Landgüter und in ihre privaten Gärten fliehen konnten, waren die prekär Beschäftigten mit überfüllten Verkehrsmitteln auf dem Weg zur Arbeit und mit Verboten fürs Spazierengehen und geschlossene öffentliche Parkanlagen konfrontiert.
So fällt auch Roths Kritik an der fatalen Eindimensionalität der Pandemie-Szenarien der Bio-Mathematikerinnen vernichtend aus, die fokussiert auf trügerische Inzidenzen unter Ausblendung wichtiger anderer Faktoren die Verdrängungs- und Panikreaktionen in Politik, Krisenstäben und Medien mit Horrorszenarien weiter befeuerten: Die „großen Lockdowns“ hält Roth für kontraproduktiv, mittlerweile aufgrund ihrer fehlenden Effekte bei enormen Folgeschäden durch Studien für widerlegt und in ihren sozialen und psychologischen Auswirkungen für fatal bis medizinisch mitunter absurd wie z.B. Ausgangssperren und das Einsperren in geschlossenen Räumen.
Weder untersucht Roth die Pandemie mit dem Tunnelblick einer einzigen Fachdisziplin, noch mit einer nationalstaatlichen Brille und kann daher die fatalen Irrtümer einer monokausalen Betrachtungsweise und Beurteilung von Pandemien und den zu ergreifenden Gegenmaßnahmen offenlegen. Und doch haben gerade diese die offizielle Politik in den meisten Ländern maßgeblich bestimmt und geleitet. Besonders katastrophal ist das beim Thema Impfkampagne: Eine globale und effektive Bekämpfung der Pandemie wurde, wie Roth analysiert, nationalstaatlicher Konkurrenz bis hin zu einem Impfimperialismus geopfert, der die Profite der eigenen Pharmakonzerne und ihrer Patente über alles gestellt hat. So wird die Pandemie unnötig verlängert und ständig neue Virusmutationen gezüchtet.
Wie eine Mischung aus Thriller und Groteske liest sich auch Roths Analyse weltweiter Pandemie-Übungen. Strukturell und mental geprägt noch aus den Zeiten des Kalten Krieges und seiner Atomkriegs- und Vernichtungsszenarien formulierten die Institutionen des Katastrophenschutzes unisono „Worst-Case-Szenarien“. 2012 gab es zum Beispiel in Deutschland nach 2007 eine zweite große nationale Pandemieübung, für die das Robert-Koch-Institut (RKI) das Drehbuch geschrieben hatte. Die Tatsache, dass Pandemien bereits ihrer nach Definition immer globale Ereignisse sind und so auch analysiert und bekämpft werden müssten, klammerte das RKI einfach aus.
Roth gelingt es zu zeigen, wie solche „Worst-Case-Risiko-Szenarien“, die von falschen, einseitigen oder linearen Voraussetzungen ausgehen, mögliche andere Entwicklungs-Szenarien einfach ausblenden. Vor allem jene Planspiele, deren Kriterien unvollständig oder national eingeschränkt sind, neigen dazu, automatisch blind zu werden. Deshalb sind sie nicht dazu in der Lage, die entscheidenden Erkenntnisse für den Ernstfall herauszufiltern und diese durch gezielte präventive Maßnahmen praktisch zu berücksichtigen. Die verantwortlichen Institutionen und die Politik haben es, wie Roth zeigt, deshalb versäumt, effektive und lebensrettende Konsequenzen aus den Planspielen zu ziehen und praktisch umzusetzen.
Nüchtern listet Roth die fatalen Folgen auf: „Aus den Planspielen zur Bekämpfung von Pandemien wurden hingegen keine Konsequenzen gezogen. Es gab keine Bevorratung von Schutzmasken, Handschuhen, Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln. Auch an die dafür erforderlichen Reservekapazitäten an Vorprodukten (beispielsweise Äthanol) und industrielle Fertigungsanlagen dachte niemand, und bei den medizinischen Geräten zur Behandlung schwerer Atemsyndrome sah es nicht anders aus. (…) Die gesundheitspolitischen Krisenplaner wagten es nicht, die auf zwei Wochen beschränkten und im Just-in-time-Verfahren getakteten Verteilungskreisläufe der Pharmagroßhändler und Apotheken anzutasten. Auch der seit Beginn des Millenniums aus Kostengründen forcierte Abbau der Krankenhauskapazitäten, der ihren Planungen diametral entgegenlief, war für sie kein Thema.“
Als sich Covid-19 ab Januar 2020 rasant über den Globus verbreitete, waren die Folgen dieser Fehlentscheidungen dramatisch: In der ersten Welle kämpften Ärzt*innen und Pflegepersonal in den meisten Ländern mit völlig unzureichender Schutzausrüstung um das Leben ihrer Patient*innen und fielen so selbst überproportional oft dem Virus zum Opfer. Mit wenigen Ausnahmen: Finnland kam bisher relativ gut durch die Pandemie, weil dort von Beginn an ausreichend Schutzvorräte vorhanden waren im Gegensatz zur USA oder Deutschland, wo u.a. die Beratungsgremien der Krisenstäbe seit Jahren den Abbau der Vorratshaltung für die Infektionshygiene genauso wie den Abbau von Krankenhausbetten und Personal aus Renditegründen vorangetrieben und abgesegnet hatten. Oder Japan, wo der Krisenstab noch im Januar 2020 alle vorhandenen Vorräte dem privaten Wettbewerb entzog und umgehend einen massiven Ausbau zur Produktion von Schutzausrüstung und Testverfahren aufgebaut hat.
In Deutschland tendierte die Politik und die Krisenstäbe dagegen dazu, im Ernstfall der Pandemie ihren eigenen falschen Hypothesen ihrer Worst-Case-Szenarien mehr zu vertrauen als den aktuellen Fakten und Erkenntnissen. In diesem Prozess aus Vermeidungs- und Verdrängungsmechanismen wollte die Politik auf keinen Fall eine Grundsatzdebatte über ein weitestgehend dereguliertes und ökonomisiertes Gesundheitswesen zu lassen. Die Verantwortlichen setzten letztlich lieber auf Abschreckung, repressive Konzepte und Lockdowns und taten dies auch, weil die einfachsten Voraussetzungen für eine effektive Bekämpfung einer Pandemie schlicht nicht vorhanden waren und ihnen die Intelligenz und die Eigeninitiative solidarischer Menschen fremd und suspekt sind.
Je vielfältiger die Perspektiven im Laufe des Buches sich verschränken, desto deutlicher und fundierter wird der Befund seiner Analyse: Verständlich und nachvollziehbar wird im vergleichenden Blick mit Länderbeispielen aus allen fünf Kontinenten Stück für Stück das komplexe Versagen nationaler und globaler Strukturen und Institutionen in der Pandemie. Das Buch zeigt damit auch die „Dummheit“ der kapitalistischen Moderne und zugleich die schlichte Tatsache, dass sich Dinge auch verändern lassen, wenn sich Menschen und Gesellschaften dafür entscheiden. So wirft das Buch eine Reihe von perspektivischen Fragen auf. Damit eröffnet das Buch noch mitten in der globalen Coronakrise die Möglichkeit für einen radikalen Paradigmenwechsel in dieser und für zukünftige Pandemien.
Nach zwei Jahren Covid-19 diagnostiziert Roth eine fundamentale Systemkrise. Ihre Komponenten sind gehäuft auftretende Pandemien, anhaltende Naturzerstörung, Klimakatastrophe und Kommerzialisierung der öffentlichen Gemeingüter. Für Roth verlangt das globale Versagen der vergangenen Jahre nach einer radikalen Konsequenz. Denn der Befund ist eindeutig: In den letzten Jahrzehnten wurden das Gesundheitswesen weltweit immer stärker privatisiert, ökonomisiert und für die Profitinteressen rationalisiert. Selbst in den reichen Ländern gab es kaum noch Reserven, als sie für eine effektive Bekämpfung einer Pandemie nötig gewesen wären. Denn dafür bräuchte es ein funktionierendes öffentliches Gesundheitswesen mit ausreichend Personal und Vorratshaltung, um sofort flächendeckend Infektionshygiene und Schutz der besonders gefährdeten Gruppen gewährleisten zu können. Das Fazit für Roth ist eindeutig: „Ein Strategiewechsel ist dringend erforderlich. In den sozialen Kämpfen der nächsten Jahre wir darüber entscheiden, ob sich eine solche Wende durchsetzen lässt.“
Roth baut bei diesem Strategiewechsel auf internationale Solidaritäts- und Basisbewegungen und vor allem auch auf eine junge massenhafte radikale globale Bewegung gegen Klimawandel und die Zerstörung unserer ökologischen Grundlagen. Zumal diese maßgeblich zur Entstehung der Pandemie beigetragen haben. Nur so könnten die extrem sich verschärfende soziale Ungleichheit und eine im globalen Süden drohende massive Schuldenkrise als Folge der Pandemie gestoppt und der Ausbau sowie die Rekommunalisierung des öffentlichen Gesundheitswesens weltweit durchgesetzt werden.
Für diese Perspektive gibt es auch in Deutschland berechtigte Hoffnungen: Mit zahlreichen Initiativen zur Rekommunalisierung von Krankenhäusern und Streiks für andere Arbeitsbedingungen in der Pflege wächst aktuell die Stimmung für eine Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens. Das Massensterben in den Pflegeheimen und die miserablen Arbeitsbedingungen sind nicht nur für die Betroffenen zunehmend unerträglich. Sie sind schlicht inakzeptabel. Ein zynisches kapitalistisches Paradox in dieser Pandemie könnte den Irrweg und das Versagen des deregulierten und renditebasierten Gesundheitssystems weiter verstärken. Der Aktienkurs des deutschen Gesundheitskonzerns Fresenius ist gerade abgestürzt, weil einer seiner profitabelsten Märkte – die Dialyse – massiv eingebrochen ist. Zu viele chronisch Kranke sind un- bzw. schlecht geschützt in der Pandemie gestorben. Nur ein Bruchteil der Rendite von Fresenius und aller anderen Gesundheits- und Pharmakonzerne, die sie ohnehin maßgeblich aus den Sozialkassen des Solidarsystems erzielen, hätte für eine sinnvolle Bevorratung von Schutzausrüstung und Materialien der Infektionshygiene sowie die nötige personelle Ausstattung öffentlicher Gesundheitsstrukturen ausgereicht. Höchste Zeit für eine solidarische Rekommunalisierung und Sozialisierung des Gesundheitswesens zum Wohle aller Menschen.
Das Buch bestellen: https://sturm-und-klang.de/product/blinde-passagiere
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