Alle Wege führen durch Utopia
Eine Weltkarte ohne Utopie ist keines Blickes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit immer wieder anlandet. Und wenn die Menschheit dort angekommen ist, schaut sie in die Ferne, und wenn sie ein besseres Land sieht, setzt sie die Segel. Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien. Oscar Wilde
Die Zukunft steht gerade auf wackligen Füssen. Wir leben in politischen lethargischen Zeiten. Alles ist gut, aber nichts wird gut sein – so denken nicht wenige von uns in Mitteleuropa, besorgt um den Verlust dessen, was wir heute noch haben. Zur Ablenkung ergötzen wir uns an Dystopien, an Endzeitvisionen, die an Plausibilität gewinnen, je apokalyptischer sie daherkommen. Ob in der Romantrilogie „Die Tribute von Panem“ oder in der Fernsehserie „Walking Dead“, in populären Fiktionen wird brutal ums nackte Überleben gekämpft. So schlimm ist’s bei uns dann doch nicht, entfährt uns ein behagliche Seufzer. Eine erleichterte Flucht ins erfundene Grauen, damit wir den wirklichen Kämpfen, etwa gegen die Klimakatastrophe, aus dem Weg gehen können. Jene, die das Privileg haben, keinen existentiellen Überlebenskampf führen zu müssen, lassen sich von Dystopien einlullen.
Sollten Sie diesen Befund nicht teilen, sollten Sie tatsächlich überzeugt sein, dass wir auf eine lichte Zukunft blicken, weil wir sie in unseren Plänen vorwegnehmen und mit unseren Handlungen anstreben, dann wird Sie dieser Vortrag nicht interessieren. Dann sollten Sie eher wandern gehen, auf alten Schmugglerwegen nach Münster zum Beispiel.
Sollten Sie aber – so wie ich – die geistige und politische Paralyse, die sich in der vielfältigen Dominanz dystopischen Denkens und apokalyptischer Visionen äußert, für gefährlich halten, dann wird Sie vielleicht interessieren, dass ich eine Lösung anbieten möchte, die zwar nicht neu ist, aber unbedingt wiederbelebt werden sollte: das utopische Denken.
Je größer die drohende Katastrophe, desto mickriger die Alternativen, so scheint es momentan, und unser Denken fällt dementsprechend recht klein und eng aus. Es mangelt nicht an Wissen über das, was in der Welt vorgeht. Niemand würde ernsthaft behaupten, es sei vernünftig, die Umwelt zu zerstören, Menschen zu entwurzeln, Ungerechtigkeiten zu vertiefen, Kriege zu entfachen. Auch sind überall auf der Welt engagierte Menschen mit der Ausarbeitung und Umsetzung konkreter Alternativen beschäftigt. Und trotzdem geht das Bewusstsein für die sich zuspitzenden sozialen und ökologischen Probleme und der Notwendigkeit ihrer Lösung viel zu oft einher mit Verzweiflung und Lähmung, vor allem bei jenen, die Nutznießer des globalen Ungleichgewichts sind, bei den Privilegierten (dazu gehören wir alle). Im politischen Diskurs herrscht das perfide Dogma der Alternativlosigkeit. Ausgerechnet jene Prinzipien, die die Katastrophendynamik beschleunigen – Profit, Wachstum, Machtkonzentration – gelten als heilig. Und trotz offenkundiger Mängel wird die freie Markwirtschaft als einziges effizientes Modell menschlichen Zusammenlebens präsentiert.
„Kann das sein?“ fragt sich seit jeher die Utopie. Kann es sein, dass das Vorherrschende die einzig mögliche Realität ist? Zeichnet die Menschheitsgeschichte nicht ein ganz und gar anderes Bild? Sind die weißen Flecken der geistigen Landkarten nicht auf erstaunliche Weise, oft nur eine Generation später, mit neuen Inhalten gefüllt worden? Und wenn wir schon bei Landkarten sind: Ein Blick in einen der vielen gerade populären Sammelbände offenbart, wie völlig unterschiedlich die Darstellung der Erde ausfallen kann (wenn man bedenkt, dass die Festlegung von Norden und Süden erst im späten Mittelalter erfolgte und willkürlich war und dass die Übersetzung von Kugel in Fläche in etwa so schwierig ist wie von Vision zu Realität).
„Erehwon“ lautet der Name einer literarischen Utopie des britischen Autors Samuel Butler. Ein sinnfreier Kunstname, bis man das Wort von hinten nach vorn liest und ein „nowhere“ sichtbar wird, ein „Nicht-Ort“, beschworen mit der kreativen Kraft der Phantasie. Das utopische Verfahren wird deutlich: die herrschenden Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt, umgestülpt, die letzten Buchstaben werden die ersten sein, was im vertrauten Alltag gilt, ist im Gedankenexperiment außer Kraft gesetzt. Utopia ist somit viel mehr als eine Insel der Seligen, auf der Frieden und Gleichheit herrschen und Bildung als höchstes Gut gilt, Utopia ist die Vorwegnahme von Veränderung im Reich der Imagination, Utopia provoziert das freieste Denken, um Alternativen zu ersinnen.
Insofern ist der seit 1989 so oft verkündete „Untergang der Utopien“ ein Totengräbergesang, der alle Träume begraben will, um universelle Friedhofsruhe durchzusetzen. Begleitet von der unbeweisbaren Behauptung, die Schrecken des 20. Jahrhunderts wären die Folge utopischen Denkens, obwohl man mit weitaus besseren Argumenten althergebrachte Mechanismen wie autoritäre Hierarchie, fanatischen Nationalismus, Rassismus, Nepotismus und exterminatorischen Imperialismus für Staatsterror verantwortlich machen könnte. Utopisches Denken war den Nazis nie gegeben, Lenin war ein wendiger Pragmatiker, der schon Ende 1917 feststellte: „Wir sind keine Utopisten … wir wollen die sozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, den Menschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne Aufseher und Buchhalten nicht auskommen werden.“ Und Marx und Engels haben ja den „utopischen Sozialismus“ zum Schimpfwort erhoben. Konservative und Liberale halten Utopien für gefährlich und extremistisch, behaupten, sie seien irrational und führten zu Gewalt. Dieser Vorwurf basiert auf einer Verwechslung von Utopie und Ideologie. Anhand der oft zitierten Überlegungen Karl Poppers kann man den Trugschluss gut aufzeigen: „Zwischen differierenden utopischen Zielsetzungen kann es keinen Kompromiss geben. Der Einsatz von Gewaltmethoden zur Unterdrückung konkurrierender Zielsetzungen wird erforderlich.“ Hier meint Popper Ideologie, denn diese pocht auf Deutungshoheit, Utopie hingegen auf die Befreiung der Fantasie aus ihrer auferlegten Unmündigkeit. Weiter bei Popper: „Arbeite lieber für die Beseitigung konkreter Übel als für die Verwirklichung abstrakter Güter.“ (Beides aus: „Utopie und Gewalt“)
Das ist ein schematischer Gegensatz, der Motivation und Vorgehen verwechselt. Es ist schwer vorstellbar, dass unzählige Menschen Tag und Nacht rackern und die Gesellschaft enorme Mittel aufbringt, um eine kleine konkrete Verbesserung zu erzielen, sagen wir zum Beispiel um einen innovativen Sporthelm oder einen besseren Schienbeinschoner zu erfinden. Das utopische Ziel der Raumfahrt hingegen inspirierte eine Vielzahl von technischen Neuerungen, so auch Polster für die Sitze im Raumschiff (das sind die Kleinigkeiten, an die Science-Fiction-Autoren selten denken), die in vielen Bereichen eine praktische Anwendung gefunden haben. So auch im Sport. Baseball-Spieler etwa werden bei einem Aufprall durch einen Helm mit einer Polsterung geschützt.
Die einflussreichste Kritik am utopischen Denken ist zeitbehaftet. Nach dem Zweiten Weltkrieg sehnten sich Denker wie Popper verständlicherweise nach einer kleinen bescheidenen Parzelle Glück und Frieden. Das einzige, was den Menschen damals möglich erschien, war „das Leben etwas weniger furchtbar zu machen, und etwas weniger ungerecht.“ Die Gegenwart war so schrecklich, die Lebenden sollten nicht mehr zugunsten der Kommenden benachteiligt werden. „Keine Generation darf künftigen Generationen zuliebe geopfert werden.“ Die Lage hat sich völlig umgedreht. Das Kap der Guten Hoffnung ist zu Spitzbergen geworden, Grünland zu Australien. Durch den ökologischen Kahlschlag opfern wir zukünftige Generationen dem parasitären Wohlergehen der heute Gedeihenden. Wenn Popper der Utopie misstraute, weil sie im Interesse der Zukunft handele, so ist heute der herrschenden Alternativlosigkeit zu misstrauen, weil sie die Gegenwart auf Kosten der Zukunft privilegiert.
Aber was ist das Utopische? Neulich hatte ich einen Disput mit einer Politikwissenschaftlerin, die gerade die Unmöglichkeit einer Definition von Utopie als Kapitulationserklärung hisste – sie selbst habe deswegen einen Essay zu diesem Thema aufgegeben. Es könnte sein, dass gerade das Diffuse dieses Begriffs seinen Wert ausmacht, die Vielfalt an möglichen Denkformen, die Verknüpfung von Ziffern und Zeichen mit Erträumungen. Die Unterwanderung des Quantifizierbaren durch die Fantasie. Nun könnten Sie einwenden, das seien Spinnereien, Sie könnten den Altbundeskanzler Helmut Schmidt zitieren: Wer Visionen hat, sollte zum Augenarzt gehen. Ich würde entgegnen, die Utopie ist schon in uns, sie ist der handfeste Stoff, aus dem Träume gewoben werden. Das Utopische ist ein Samen in jedem Menschen, aber auch eine historische Erfahrung.
Was seit Anbeginn der Moderne utopisch genannt wird, war einst gelebte Wirklichkeit, mal als Ausnahme, mal als Regel, mal in einer Nische oder Oase, mal auf den weiten Prärien der Selbstverständlichkeit. Utopien erwachsen aus unserem kollektiven Gedächtnis. Die längste Zeit lebte die Menschheit in egalitären Gesellschaften, in denen es keine institutionalisierte Autorität gab, sondern die Rolle des Anführers oder der Anführerin – es handelte es sich in alten Zeiten nicht selten um Matriarchate – ging an die Weisen, die Intelligenten, die Charismatischen. Jüngste Ausgrabungen in China, Niger, Pakistan, Peru und Mali belegen, dass sich in den frühesten Zivilisationen keine Spuren zentralisierter Macht finden, keine architektonischen Manifestationen von Herrschaft und Unterwerfung, obwohl es bereits Arbeitsteilung und Spezialisierung gab. In einigen der ältesten religiösen Traditionen, im Judentum wie auch im Taoismus, wird das Gemeineigentum (heute würden wir commons dazu sagen) propagiert. Und selbst noch im Mittelalter herrschte eine dörfliche Ordnung der Allmende vor, so wie heute noch in Afrika, weswegen es den Investoren, die dort land grabbing im großen Stil betreiben, leicht fällt, kommunales Land zu erwerben, indem sie die Dorfvorsteher bestechen.
Auch hehre Zeile unterliegen einer Konjunktur. Mal sind sie verwirklicht, mal verwirkt. Die Sklaverei der Antike verschwand im Mittelalter in Europa fast völlig, bis durch die „Entdeckung“ Afrikas neue Rohstofflieferanten und aufgrund der Plantagen der Americas neue Märkte entstanden. Sklaverei wurde so selbstverständlich wie heute die Container-Schiffahrt und als Ende der 18. Jahrhunderts in England, in einer Epoche gewaltiger Umbrüche mit starkem utopischen Destillat (die Amerikanische Revolution, die Französische Revolution) die Sklaverei in Frage gestellt wurde, beteiligten sich an diesem neuen ethischen Bekenntnis nur wenige, denn der transatlantische Sklavenhandel war für Großbritannien sehr profitabel. Er sicherte Arbeitsplätze, er ermöglichte Vermögen, er garantierte Konsumgüter. Er war daher gerechtfertigt. Kommt Ihnen diese Argumentation bekannt vor?
Die frühen Opponenten wurden vor allem durch religiöse Überzeugungen motiviert. Viele waren Quäker, gesellschaftlich marginalisierte Sektierer also, die wegen ihres festen Glaubens an Gleichheit als Fanatiker angesehen wurden – als gefährliche Utopisten. Sie wurden aus dem öffentlichen Dienst verbannt, sie hatten wenig Einfluss. Einige Jahrzehnte später war aus einigen einsamen Rufern in der grünen englischen Wüste eine Bewegung entstanden, die nach einem fünfzigjährigen politischen Kampf im Sommer 1833 zu einem Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei im gesamten britischen Empire führte. Der Kampf um die Gleichberechtigung der Frau, die wohl größte und wichtigste Utopie, entwickelte sich in den USA aus der abolitionistischen Bewegung, weil Frauen, die jahrelang durch die Landen tourten, um Reden gegen die Sklaverei zu halten, sich durchsetzen mussten, überhaupt sprechen zu dürfen. Die World Anti-Slavery Convention verweigerte etwa den weiblichen Delegierten 1840 die Akkreditierung! Die Aktivistinnen, die oft radikaler waren als ihre männlichen Mitstreiter, denn sie forderten ein sofortiges, nicht ein graduelles Ende der Sklaverei, begannen sich auch für Frauenrechte einzusetzen. Mit Stimme und Stift sammelten sie praktische Erfahrungen, organisierten und dozierten. Die Diskriminierung, der sie ausgesetzt waren, veranlasste sie, sich zusammenzuschließen, zu einer eigenständigen Emanzipationsbewegung. Ein wunderbares Beispiel übrigens für Karl Mannheims Interpretation von Utopien als Triebkräfte sozialer Bewegungen. Liest man heute die Reaktion der Pro-Sklaverei-Lobby oder der Anti-Frauenrechtslobby, so staunt man, wie sehr die Vorwürfe der Gegner strukturell jenen ähneln, die heute angeführt werden, wenn es um dringend notwendige sozio-ökologische Transformationen geht.
Immer wieder wurde „Utopismus“ als Vorwurf vorgetragen. Rousseaus Gesellschaftstheorie, die heute in jeder Schule und an jeder Universität gelehrt wird, geriet in Utopieverdacht, ebenso Kants „Zum Ewigen Frieden“. Die Idee eines liberalen Rechtsstaats galt den Konservativen noch Mitte des 19. Jahrhunderts als utopisch, in Südafrika die Emanzipation der Nicht-Weißen. Als ich als Student in München in den achtziger Jahren meine Überzeugung kundtat, die Diktaturen des Ostblocks würden mit Sicherheit zusammenbrechen, vielleicht nicht morgen, aber spätestens übermorgen, würde ich als weltfremder Träumer belächelt. Utopisten sind jene, die das Undenkbare aussprechen.
Wie schon gesagt: Die utopischen Ideale leiten sich nicht aus theoretischen Überlegungen ab, sie existieren schon in Teilen als Ethik und gelebte Alternative. Das ist auch gut so, denn die Kritik an den herrschenden Verhältnissen muss einhergehen mit Belegen, dass es anders geht, dass die Idee einer solidarischen Welt jenseits von ökonomischer Ausbeutung und Zerstörung nicht auf eine nur imaginierte Zukunft (auf einer womöglich abgeschiedenen Insel) verweist, sondern schon heute im Alltag und im Handeln der Menschen konkret aufscheint. Nur unter Maßgabe dieses Nachweises verwandelt sich die Forderung nach einer menschenwürdigen Welt aus einer abstrakten in eine konkrete Utopie.
Womit wir bei der Praxis wären. Denn das Streben nach Utopie ist eine handfeste Angelegenheit. Am Anfang steht die Frage, wie Veränderung überhaupt gelingt. Adorno war pessimistisch, dass angesichts der kulturindustriellen und sozialtechnischen Beherrschung des modernen Menschen „eine Praxis, auf die es ankäme“ noch möglich sei. Seine Konsequenz, dass allein noch im Denken und in der Kunst die Möglichkeit eines freien und widerständigen Handelns gegeben sei, trifft allerdings nicht zu (es gehört übrigens zum utopischen Denken, die großen allen Männer auf ihrem kanonischen Sockel ein wenig zu kitzeln). Als ich in den letzten beiden Jahren eine Vielzahl von Recherchereisen in Ländern und Regionen unternommen habe, die von Katastrophen unterschiedlichster Art heimgesucht worden sind (für das mit Thomas Gebauer verfasste Buch „Hilfe? Hilfe!“) fiel mir auf, dass just in Momenten der Katastrophe an der grundsätzlichen Möglichkeit einer Befreiung aus Zerstörung, Not und Unmündigkeit nicht nur geglaubt wird, sondern diese Befreiung konkret ausbuchstabiert und wenn möglich umgesetzt wird. Krise als utopische Chance. Oder: Ein Paradies, das in der Hölle entsteht.
Ist das Utopische wirklich diskreditiert, oder ist es vielmehr ins Private abgeschoben, wo eine wachsende Zahl von Selbstoptimierern von Herausforderung zu Herausforderung hastet. Der Einzelne soll sich vervollkommnen, soll das Optimum aus sich herausholen, ein durch und durch utopisches Moment. Bis hin zu der radikalsten aller Utopien, die Überwindung des Todes durch Kryostase (einfrieren und warten, bis die Zukunft einen von den Eistoten auferweckt). Jeder Mensch soll flexibel und dynamisch auf Belastungen und Zumutungen reagieren, nicht aber die Gesellschaft. Das ist die Cruz unserer Epoche. Der Ego-Wahn hat das Individuum in ein Labor der selbstexperimentellen Adaption – neudeutsch: Resilienz – verwandelt. Eher können wir uns vorstellen, den Menschen in einen Cyborg zu verwandeln oder durch Roboter und AI zu ersetzen, als die momentanen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens in Frage zu stellen. Die Verbindung zwischen Selbstverbesserung und gesellschaftlicher Veränderung ist gekappt.
Die gegenläufige Entwicklung durchlief Gandhi, mit dem ich mich in den letzten Monaten wegen einer neuen deutschen Übersetzung seiner Autobiografie eingehender beschäftigt habe. Gandhi hat gesellschaftliche und individuelle Transformation gemeinsam gedacht. Widerstand gegen Ungerechtigkeiten, gespeist aus spiritueller Hingabe und dem Geist der Gewaltlosigkeit, ist ein Experiment, bei dem utopische Ideale auf existierende gesellschaftliche Normen prallen, wobei beide auf den Prüfstein gestellt werden, so dass ihre jeweiligen Schwächen offenbar werden. Dieser Prozess führt zur Veränderung, in der Gesellschaft wie auch im Einzelnen, dessen Ideale sich unter Umständen als tönern, dessen Überzeugung sich als zu schwach herausstellt. Gandhis gesamtes Leben bestand aus einer Reihe solcher Experimente, wie schon der Untertitel seiner Autobiografie klarmacht: „Meine Experimente mit der Wahrheit“. Und Wahrheit bedeutet in diesem Kontext Utopie, denn das Lieblingsmantra von Gandhi lautete „Ram Nam Sath Hae“ (Gott, Dein Name ist Wahrheit). Wer wird Gandhis tiefe Überzeugung bezweifeln, dass das Streben nach einem Ideal uns zu besseren Menschen macht?
Die Flaute visionären Denkens kann nur vorübergehend sein. Es gibt Anzeichen (Publikationen, Konferenzen, Projekte wie der utopische raum), dass utopisches Denken eine Renaissance erfährt. In Zeiten, in denen der Überwachungskapitalismus, die oligarchischen Strukturen und die destruktiven Finanzmärkte Gegenentwürfe geradezu provozieren, wird der utopische Wind weiter aufbrausen und uns helfen, die entscheidenden Fragen entschieden zu stellen.
Ein Beispiel: Ist Demokratie mit Vermögenskonzentration vereinbar? Geld ist Macht, sagt der Volksmund seit Jahrhunderten, so als habe er geahnt, dass keines der Regulative der parlamentarischen Demokratie eine exzessive Konzentration des Vermögens in den Händen einer kleinen Elite verhindern kann. Materielle Ungleichheit bedingt politische Ungleichheit. Dagegen kann man eben nichts machen, denkt sich der Pessimist (also einer, dem es an Phantasie mangelt), die vielzitierte Schere klafft nicht nur immer weiter auf, sie schnippelt eifrig am Mittelstand, bis von diesem nicht mehr übrig geblieben sen wird als eine verängstigte Schicht zwischen Stigmatisierten und Selbstoptimierten. Die Utopie fragt: Wieso muss es extremen Reichtum überhaupt geben? Und ist nicht Reichtum das Gegenteil von Wohlstand, verstanden als richtiges Leben als besseres Leben.
Es gibt Gründe genug, optimistisch zu sein. Trotz eines Systems, das Eigennutz und Gier belohnt, erleben wir täglich solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe, gemeinschaftliche Lösungen. Diese kleinen und großen Handreichungen tragen mehr zum Gleichgewicht in der Gesellschaft bei als das profitable Funktionieren all jener quantifizierbaren Prozesse, die allein dazu dienen, die Macht und den Reichtum einer zunehmend kleiner werdenden Schicht zu sichern.
Die Welt wird nie gut, aber sie könnte besser werden, hat Carl Zuckmayer einmal geschrieben, und leider nicht hinzugefügt, dass der Traum einer guten Welt die Grundlage für ihre Verbesserung bildet. Ohne Utopien droht uns die Hoffnungslosigkeit, und diese ist „die vorweggenommene Niederlage“ (Karl Jaspers).
Und selbst wenn wenig Konkretes bei unseren Kopfreisen durch die die vielen konkreten und wenige handfesten Utopias herauskommt, „ein Leben im Traumland macht glücklich“. So schrieb einst Gandhi und wie recht er hatte. Ein Leben im Traumland immunisiert gegen die grassierende Zukunftsangst. Ich kann es Ihnen nur ans Herz legen.
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