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Biographie als Dialog von Gunna Wendt

Updated: Oct 21, 2022



Wenn ich mich mit Leben und Werk eines Menschen auseinandersetze, dann findet für mich - auch wenn der Mensch längst tot ist - eine lebendige Begegnung statt. Das bedeutet vor allem, dass ich es ablehne, eine allwissende Biographinnenpose einzunehmen, die Objektivität suggeriert und die Zugangswege verschleiert. Begegnung bedeutet für mich Dialog. Ich nähere mich dem Menschen und seinem Werk, stelle Fragen, bekomme Antworten oder auch nicht, werde näher gebeten oder auch nicht. Ein dynamischer Prozess, ein Wechsel von Nähe und Distanz, beginnt. Antworten erzeugen wieder neue Fragen. Und auch der Dialog vervielfältigt sich und bezieht andere Menschen mit ein, die etwas dazu beizutragen haben. Ihre Aussagen treiben meinen Text genauso voran wie die Originaltexte und sind daher nicht als Zitate im landläufigen Sinn zu verstehen, sondern als gleichberechtigte Textelemente. Das Motiv der offenen und geschlossenen Türen zieht sich wie ein Leitmotiv durch meine Arbeit am Thema Biographie: Es gibt Türen, die von Anfang an offen stehen, Türen, die sich leicht öffnen lassen - so quasi wie von selbst - es gibt Türen, zu denen man den Schlüssel finden muss und es gibt Türen, die verschlossen bleiben. Und dann gibt es Türen, die man gern öffnet, Türen, die man mit Neugier öffnet, Türen, die man mit Angst und Herzklopfen öffnet, weil man nicht weiß, in welche Zimmer sie führen. Bei den Zimmern ist es ähnlich. In manchen Zimmern wird man warm und herzlich aufgenommen, in manchen erscheint man als ungebetener Gast, als unerwünschter Eindringling. Mir fällt dabei immer wieder ein wunderbares Gedicht von Lars Gustafsson ein, in dem es heißt: "Wir gehen von warmen Zimmern in kalte und von kalten wieder in warme Zimmer." 2 Meine Beschäftigung mit dem Thema Biographie begann vor mehr als 20 Jahren. Ich schrieb meine Magisterarbeit an der Uni Hannover über die Malerin Paula Modersohn-Becker. Der Titel lautete "Zur Situation einer Künstlerin um die Jahrhundertwende in Deutschland." Neben den Elementen "Historischer Hintergrund", "Persönliche Lebensgeschichte", "Künstlerische Tradition" tauchte sofort die Quellenfrage auf: Sind die Briefe und Tagebücher Paula Modersohn-Beckers, die ich in Worpswede einsehen konnte, adäquate Auskunftgeber, wenn es um Leben und Werk einer Malerin geht? Was das Leben betrifft, sicherlich, aber wie sieht es mit dem Werk aus? Ich stieß nämlich in meiner Forschung sofort auf einen großen Gegensatz. Kurz zusammengefasst lässt er sich so beschreiben: Während Paula Modersohn-Becker in ihren Tagebüchern und vor allem in ihren Briefen ein "Kind ihrer Zeit" war, mehr oder weniger verhaftet in den üblichen Konventionen, war sie ihrer Zeit in ihren Werken längst um Meilen voraus. Eine Ungleichzeitigkeit, die vielleicht konstitutiv ist für künstlerisches Arbeiten überhaupt. Bei Sylvia Plath fand ich dasselbe Phänomen. Es gibt einen Brief aus England an die Mutter in Amerika, in der sie dieser vom Schnee erzählt und eine typische Winderwonderland-Landschaft beschreibt. Fast zur selben Zeit entstand ihre Geschichte "Schneeangriff". Der Titel, glaube ich, sagt genug aus. In den Jahren der Rezeption von Biographien, die natürlich anhalten, machte ich in bezug auf biographische Darstellungen in Buchform oder Ausstellungen ganz ähnliche Beobachtungen: Oft wurde die Figur, um die es ging, behutsam eingebettet in ihren historischen und sozialen Hintergrund, ihre individuelle Lebensgeschichte wurde linear erzählt und plastisch dargestellt, man konnte sich die Figur als Kind in ihrer Zeit hervorragend vorstellen - ABER! der Sonderfall, den eine künstlerische Existenz immer bedeutet, war verschwunden. Mehr noch oder schlimmer noch: Der Künstler war verschwunden, untergetaucht in der eigenen Geschichte, in der Alltagsgeschichte. Sein Werk wurde zwar genannt oder ausgestellt, 3 oft genau mit Entstehungsjahr und Ort, aber wie es dazu kam, wurde nicht deutlich. Das Ringen um das Werk, das asoziale Moment von Kunst, der Größenwahn, die Einsamkeit, der Horror und das Glück - waren sie nicht darstellbar? Künstlerische Produktion - war sie nicht vermittelbar? Fragen, die nie aufgehört haben, mich zu beschäftigen. Eine Antwort tauchte ziemlich bald auf und scheint ganz banal, wenn man sie äußert: Man muss das Werk befragen, um den Künstler zu finden! Man muss mit dem Werk in einen Dialog treten. Diesen Dialog fand ich allerdings weniger in der Literatur als im Film: Da war der Film von Paul Schrader über Mishima und der Film von Fritz Lehner über Franz Schubert, "Mit meinen heißen Tränen". Nicht zu vergessen: "Molière" von Arinae Mnouchkine. In ihrer Konzentration auf einige Aspekte von Leben und Werk schufen sie eine Atmosphäre künstlerischer Kreativität. Die fand ich dann endlich auch in einem philosophischen Werk, das seither einer meiner wichtigsten Dialogpartner in Sachen Biogaphie ist: Gilles Deleuze, Félix Guattari, "Kafka. Für eine kleine Literatur". Und in einem literarischen: Julio Cortázar, „Der Verfolger“. Kurz zum Inhalt: Ein Journalist namens Bruno schreibt die Biographie eines Jazzmusikers namens Johnny (Vorbild ist der große Saxophonist Charlie Parker). Johnny macht seinem Biographen den Vorwurf, dass in dessen Buch einiges fehle und zählt die Dinge auf, die er vermisst. Der Biograph verteidigt sich und Johnny räumt ein: "Mach dir nichts draus, Bruno, es ist nicht schlimm, dass du vergessen hast, dies alles zu schreiben. Aber Bruno" - und er hebt einen Finger, der nicht zittert - "Was du vergessen hast, das bin ich." "Nicht möglich, Johnny." "Mich hast du vergessen, Bruno, mich. Aber es ist nicht deine Schuld, dass du nicht hast schreiben können, was ich auch nicht zu spielen imstande bin." 4 "Also steigen wir einfach irgendwo ein, kein Einstieg ist besser als ein anderer, keiner hat Vorrang, jeder ist uns recht, auch wenn er eine Sackgasse, ein enger Schlauch, ein Flaschenhals ist" schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari in "Kafka. Für eine kleine Literatur". Manchmal kommt man einem Menschen näher durch einen Film, ein Bild oder ein Musikstück - Dinge, die einen an ihn erinnern, auch wenn sie eigentlich nichts mit ihm zu tun haben. Näherkommen, annähern sind die adäquaten Verben. Ziel sollte es sein, während der Arbeit, die Person als Gegenüber, als Dialogpartner zu verstehen, nicht als Objekt, das einem ausgeliefert ist. Weder akademische Überordnung noch plumpe Vertraulichkeit oder vereinnahmende Identifikation sollten die eigene Haltung prägen. Keiner hat das so deutlich und eindringlich gesagt wie Gilles Deleuze über seine Auseinandersetzung mit Kafka: "Als Ideal schwebt mir vor, wenn ich über einem Autor sitze, nichts zu schreiben, was ihn traurig machen könnte. Man sollte an den Autor denken, über den man schreibt. Man sollte so fest an ihn denken, dass er kein Objekt mehr sein kann und man selbst sich nicht mehr mit ihm identifizieren kann. Zu vermeiden ist eine zweifache Schändlichkeit: das Gelehrtenhafte und das Familiäre. Man sollte dem jeweiligen Autor ein wenig von der Freude, der Kraft, dem politischen und amourösen Leben zurückgeben, die er selbst sich auszudenken und zu vermitteln vermochte." Die Chance, das Leben eines Menschen nachzufühlen, besteht im Entfalten seiner Vielfalt, nicht im Bemühen um Vollständigkeit, denn die ist eine Illusion. Der Versuch, die vielfältigen Aspekte darzustellen, beginnt mit der Suche nach vielfältigen Betrachtungswinkeln. Man nimmt nicht historisch oder chronologisch wahr, sondern analogisch, über Geschichten. Jeder Tag mit seiner Vielzahl von Wahrnehmungen und Eindrücken entspricht einer Vielzahl von erlebten Geschichten. Wenn wir uns ein Gesicht, eine alltägliche Straßenszene einprägen wollen, tun wir es mit Hilfe einer Geschichte. Und auch das Weitererzählen geschieht auf diese Weise. 5 Jede Einzelbegegebenheit, jede Situation hat ihre eigene Wahrheit und Authentizität. Zeitgeschichtliche, psychologische Einordnungen ändern bestenfalls die Beleuchtung. Neugier und Staunen haben meine Arbeit begleitet. Eine Intention meines Textes liegt darin, den Prozess meiner Recherche nachvollziehbar zu machen. So wird ein scheinbar individuelles Verfahren transparent. Die Summe der Fakten und Zusammenhänge lässt die Realität einer Lebensgeschichte entstehen. Sie erzeugt Wirklichkeit, aber der erste, unvoreingenommene Eindruck ist vielleicht der Wahrheit näher. Mich hat er immer wieder zurückgeholt zu dem ersten Geheimnis, das über dem Leben dieses Menschen, wie über dem Leben eines jeden Menschen liegt. Immer dann, wenn ich in den verschiedenen Archiven objektiv verwert- und interpretierbare Funde machte, schriftliche wie mündliche Zeugenaussagen fand, belegbare Ergebnisse vorweisen konnte und doch gleichzeitig spürte, dass sie den Blick mehr verstellen als erhellen, fiel mir das Herz mit dem doppelten Boden an Liesl Karlstadts Grab ein. Das lodernde knallrote Herz mit dem Namenszug in kindlicher Schreibschrift, appetitlich, zum Anbeißen, niedlich, fröhlich. Lebhaft und munter - an einem Ort der Ruhe und Besinnung. Das Herz fiel mir ein und vor allem das, was es verbarg: einen anderen fremden Namen in seiner Tiefe, hell und durchschimmernd, sehr weit weg, aber präsent. (c) Gunna Wendt


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